Von Diagnosen, die verletzen und Verletzungen, die nicht diagnostiziert werden – Plädoyer für eine zweigleisige Kritik von Klassifizierungen psychischer Störungen im Kontext von Geschlechterverhältnissen
18.30–19.45 Uhr | Vortrag mit Diskussion
Eine zentrale Kritik queer-feministischer Psychologien betrifft die Pathologisierung von Verhalten und Erleben, das von Gendernormen abweicht – wie zum Beispiel die erst 1991 aus dem ICD-10 gestrichene Diagnose „Homosexualität“. Diese Kritikstrategie stößt jedoch dort an ihre Grenzen, wo eine Kategorisierung als psychisches Problem eine Anerkennung von psychischen Verletzungen darstellt, die im Kontext von Macht- und Geschlechterverhältnissen erfahren werden, beispielsweise traumatische Erfahrungen durch sexualisierte Gewalt. In meinem Beitrag plädiere ich daher dafür, die Kritik der Pathologisierung durch eine Kritik der mangelnden Problematisierung psychischer Verletzungen zu komplementieren. Denn auch diese kann Geschlechterverhältnisse stützen: Die Frage, welche und wessen Verletzungen als Problem und nicht als Normalität anerkannt werden steht im Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Klassifizierungen psychischer Störungen gilt es dementsprechend nicht nur darauf zu untersuchen, ob sie selbst verletzen – sondern auch darauf, ob sie Verletzungen im Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen berücksichtigen. Am Beispiel der Geschichte der Aufnahme von PTBS als Diagnose in DSM und ICD zeige ich auf, wie sich diese zwei Analysestrategien gegenseitig ergänzen können und wie sich dabei die Kritik an Diagnosen verschiebt.