Themenblock III
(Selbst-)reflexive Perspektiven auf Psychologie & Psychotherapie​
Mi, 25/11/20

Neoliberale Konsequenzen für die Psychologie: neue Arbeitsregime, neue Klient*innen, neue Psycholog*innen

18.30–19.45 Uhr | Vortrag mit Diskussion

Die neo-liberale Transformation unserer Gesellschaften bezieht sich nicht nur auf die Arbeitsbedingungen (was ja mit Austerität & Prekarität erstmals gemeint sein mag). Auch zielt »Neoliberalismus« keinesfalls nur auf ökonomische Veränderungen ab – auch wenn die neo- liberalen, drakonischen »Strukturanpassungen« in vielen Ländern eine keinesfalls zu leugnende Tatsache sind. Prekarität & Austerität – als »Superwaffen« des Neoliberalismus – sind nicht nur vermeintliche Folgen solcher Strukturanpassungen, sondern auch eigenständige politische Mittel hin zu einer grundlegenden Rekonfiguration unserer Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit, die alle Aspekte der gesellschaftlichen Organisation miteinbezieht: Institutionen, Staat, Arbeit, Individuen, Bedürfnisse, Beziehungen, Rechte etc. Wie Gesellschaft aussieht bzw. auszusehen hat, wird dabei von neuem konfiguriert werden. Die neuen umkämpften Praxen und neuen Arbeitsregime fordern und erschaffen ihrerseits neue Subjektivitäten und neue Praxisformen. So bedeutet, beispielsweise, die Arbeit in einer NGO für eine(n) jung(en) sozialwissenschaftliche(n) AbsolventIn nicht nur prekäre Arbeit; sie beinhaltet auch Veränderungen innerhalb des psychosozialen Rahmens der Arbeit, die bezüglich der Anforderungen und Möglichkeiten für die Subjekte Ähnlichkeiten mit high- tech Arbeitsplätzen aufweisen, z. B. Anwendung von ständig aktualisiertem Wissen, aber auch kontinuierliches Lernen für und während der Arbeit; Aspekte von Forschungstätigkeit und Wissensproduktion etc. Darüber hinaus werden zunehmend auch Tätigkeiten erwartet, die lediglich zur Reproduktion des Arbeitsplatzes beitragen, wie z. B. »manageriale« Aufgaben oder Akquirierung von funds.

Die NGOisierung der (psychologischen) Arbeit schafft auch neue Arbeitsräume, neue Arbeitsinhalte und auch neue Arbeitssubjekte. NGOisierung meint dabei nicht die Ersetzung von Öffentlichem durch Privates, sondern die Schaffung eines neuen Regimes von Beziehungen zwischen öffentlich und privat. NGOisierung charakterisiert mehr eine »Methodologie«, eine Technologie, die die Funktionen aller teilnehmenden Akteure und Konstituenten transformiert, d. h. die NGOs selbst, den Staat und die individuellen Subjekte und ihre Beziehungen etc.

Athanasios Marvakis, Jg. 1962; Aufgewachsen in Schwaben als Kind griechischer Migranten. Psychologe (Dipl.-Psych., Dr. rer. soc., Universität Tübingen), Professor für Klinische Sozialpsychologie an der Aristoteles Universität von Thessaloniki. Arbeitsgebiete: Psychologie und ihre Verhältnisse mit Formen sozialer Ungleichheit; Jugendliche und ihre Orientierungen; Migranten/Flüchtlinge in Griechenland; Kritische Psychologie des Lernens und des „schooling-complex“; Psychologie und Neoliberalismus. 
Veröffentlichungen: https://auth.academia.edu/AthanasiosMarvakis
Kontakt: marvakis@eled.auth.gr